Bayern. Der Freistaat
B. besteht in seinem ungefähren jetzigen Umfang erst seit etwa
120 Jahren. Seine früheren Bestandteile waren die Herzogtümer
Ober- und Niederbayern, die Rheinpfalz, Oberpfalz, verschiedene Freistädte
(große Judengemeinden in Regensburg, Nürnberg und Augsburg),
die Bistümer (u.a. Bamberg, Passau, Eichstädt, Freising) u.a.m.
Die j. Geschichte ist in diesen einzelnen Landesteilen ungleichartig
verlaufen.
Die ältesten bayerischen J.-gemeinden stammen wahrscheinlich aus
alter, aber nicht - wie für Augsburg und Regensburg behauptet wird
- aus vorchristlicher Zeit. Die Raffelstetter Zollordnung von 906 über
den Brückenzoll in Passau ist der erste urkundliche Beweis für
den Aufenthalt von J. in B. In Regensburg sind sie erstmals im Jahre
981 nachweisbar, in Passau und München seit dem 13. Jhdt., in der
herzoglichen Residenz Landshut seit der Gründung (1204). Jedoch
darf man schon frühere Anwesenheit in den Städten vermuten.
Sie betrieben Handel, hauptsächlich mit Sklaven, Salz und Pferden,
später auch mit Edelmetallen, und das Geldgeschäft. Kaum in
einem anderen Lande haben sie im MA so viele Leiden erduldet wie in
B. Die Kreuzzüge, die falschen Blutbeschuldigungen und Anklagen
der Hostienschändung, der "Schwarze Tod" u.a. brachten
immer von neuem Ausplünderung, Vertreibung und Tod über sie.
1096 wurden sie u.a. in Regensburg verfolgt. 1276 aus ganz Ober-B. verjagt,
1285 wurden sie in München der Ermordung eines Christenkindes angeklagt,
und die Synagoge (in der heutigen Gruftstraße) wurde in eine Kapelle
verwandelt. 1298 wiegelte der Edelmann Rindfleisch durch die Beschuldigung
der Hostienschändung die Pöbelmassen gegen die J. auf, und
in den Gemeinden Röttingen, Rothenburg, Würzburg und Nürnberg
wurde ein entsetzliches Blutbad angerichtet. Zu den Märtyrern in
Nürnberg gehörte u.a. der Rabbiner Mardochaj ben Hillel, Verfasser
des Kompendiums "Mardochaj". 1314 wurden die J., wohl nur
für kurze Zeit, des Landes verwiesen, 1336-38 wütete die Armleder-Verfolgung;
besonders schwer war das Blutbad in Deggendorf (1337), zu dessen Andenken
noch im Jahre 1800 in Regen ein Theaterstück "Der Religionseifer
oder die Ausrottung der J. in Deggendorf anno 1337" aufgeführt
wurde. In wirtschaftlicher Hinsicht wurden für die J. die im Mittelalter
beliebten und bis in die neuere Zeit häufigen Schulderlässe
für ihre christlichen Schuldner besonders drückend. Erwähnenswert
sind die Schuldenerlässe des Herzogs Heinrich nach einer J.-verfolgung
in Straubing für die Bürger (1338) und des Kaisers Wenzel
vom Jahre 1390 für den Herzog Friedrich, worauf auch alle "Grafen,
Ritter, Herren, Knechte und andere Untertanen" dieselbe Vergünstigung
erhielten.
Vor 1442 wurden die J. abermals aus Oberbayern, 1477 aus Eichstädt
vertrieben, 1478 in Passau verfolgt, 1498 aus Nürnberg, 1519 aus
Regensburg, 1551 aus dem ganzen damaligen B. verjagt, wobei Joselman
von Rosheim sich dafür verbürgen mußte, daß das
Gebiet von Ober- und Niederbayern in Zukunft von J. nicht betreten würde.
In der Landesordnung von 1553 werden sie als "schädliches
Element" bezeichnet. Sie mußten bei der Durchreise mit Geleitbriefen
versehen sein (Judengeleit) und durften sich in derselben Ortschaft,
während der Dauer des Geleitbriefes, nur einmal aufhalten. Ja,
sie konnten sogar ihre Forderungen nicht persönlich geltend machen,
und den Christen wurde jeglicher Handel mit J. auch außerhalb
des Landes untersagt; selbst Verträge waren ungültig. Diese
und andere Bestimmungen der Landesordnung wurden durch die Polizeiordnung
von 1616 noch verschärft. - Allerdings wohnten J. seit langem und
mit nicht allzu großen Unterbrechungen in Ländern, die später
an B. fielen, so bes. im Bistum Würzburg, Bamberg, in Ansbach-Bayreuth,
in Teilen der Pfalz, im Schwäbischen usw., während Ober- und
Niederbayern ihnen fast zwei Jahrhunderte lang verschlossen blieben.
In der Pfalz, in Franken und in Schwaben nahm die Zahl der J. im 17.
und 18. Jhdt. bedeutend zu. Von hier aus fand dann die Besiedelung der
in der Zwischenzeit judenfreien Zentren des Landes, München, Nürnberg,
Regensburg usw., statt.
Während der österreichischen Besetzung des Landes im spanischen
Erbfolgekrieg (1701-14) kamen vornehmlich J. aus Österreich nach
B., die größere Geldgeschäfte machten. Nach dem Kriege
wurden sie gegen den Widerspruch der Stände ausgewiesen. Aber bald
darauf findet man sie wieder in München. Der Kurfürst selbst
nahm bei J. Anleihen auf, die nach und nach den Betrag von 3 Millionen
überstiegen. Als die Zahlung verlangt wurde, warfen die Verordneten
die Frage auf, ob man im Hinblick auf andere Verbindlichkeiten "die
stipulirten übermäßigen Gewinne zu zahlen gehalten sei".
1750 wurden die Beschränkungen der Polizeiordnung von 1616 für
die Hoffaktoren und die mit Freipässen versehenen J. aufgehoben.
Die letzteren mußten allerdings die Pässe alljährlich
erneuern, andernfalls sie dem Leibzoll und Geleit unterlagen. Der um
jene Zeit herausgegebene Codex Maximilianeus enthielt mehrere drückende
Bestimmungen für die J. Vollkommen rechtlos waren die ausländischen
J., die nur auf kurfürstliche Pässe zu den Jahrmärkten
kommen durften; den unbefugten Durchreisenden drohte die Konfiskation
ihrer Waren. Im letzten Viertel des 18. Jhdts. wurden zwar einzelne,
wirtschaftlich schädigende Maßnahmen gegen die J. ergriffen
(so in der Oberpfalz Ausschluß vom Erwerb von Liegenschaften,
Hausierverbot usw.), andererseits aber wuchs die Duldung gegenüber
ihrem religiösen Leben. So wurde in München die früher
verbotene Abhaltung des Laubhüttenfestes gestattet, das Verbot,
daß Jüdinnen dort nicht entbinden dürfen (sie mußten
sich früher zu diesem Zwecke nach Kriegshaber bei Augsburg begeben),
aufgehoben usw.
B. war lange eine Stätte j. Gelehrsamkeit. Regensburg, Fürth,
Nürnberg u.a. Gemeinden hatten berühmte Talmudschulen. Von
bedeutenden Gelehrten, die in B. wirkten, seien Jakob Weil, Israel Bruna,
Moses Minz genannt. Im 18. Jhdt. spielten im wirtschaftlichen z.T. auch
im politischen Leben die Hoffaktoren, dann die j. Hoflieferanten eine
Rolle, so Noe Samuel Isaak, I. Westheimer, A.E. Seligmann u.a.
Unter der Wirkung der Aufklärung und mit Rücksicht auf die
wirtschaftlichen Interessen des Landes änderte sich allmählich
die Stellung des Staates zu den J. Nach Erlaß des Edikts über
die Glaubensfreiheit der Protestanten seitens des Kurfürsten, späteren
Königs Maximilian IV. Joseph (1800) wandte dieser sein Augenmerk
auch der J.-frage zu und verkündete in einer Resolution i. J. 1801,
daß auch "dieser unglücklichen Menschenklasse"
- wie man damals die J. nannte - "nachdem man sie doch aus den
Erbstaaten nicht verbannen könne, ohne sich einer Grausamkeit und
Ungerechtigkeit schuldig zu machen, eine solche Einrichtung gegeben
werden möchte, durch welche sie allmählich zu nützlichen
Staatsbürgern erzogen werden würden." Diese Kundgebung
ermutigte die J. des Fürstbistums Würzburg zu dem Versuche
durch die Hilfe des Würzburger Theologieprofessors Oberthür
die Gleichberechtigung zu beantragen. Seine Eingabe war sehr vorsichtig
und zurückhaltend abgefaßt, sodaß sie in keiner Weise
den gewünschten Erfolg haben konnte. Immerhin, die Frage war ins
Rollen gebracht. 1804 erhielten die J. das Recht, allgemeine Schulen
zu besuchen, im folgenden Jahre wurde ihnen der Zutritt zur Bürgermiliz
gestattet. 1808 wurde der lästige Leibzoll abgeschafft. Die damals
versuchte Beseitigung der Rabbinergerichte wurde durch die Bemühungen
der Judengemeinde in Fürth wieder rückgängig gemacht.
Die Konstitution vom 1. März 1808 stellte zwar den Grundsatz der
Religions- und Gewissensfreiheit auf, besserte aber keineswegs dadurch
die Rechtslage der Juden. Das Edikt vom 10. Juni 1813 erklärte
sie zwar in bezug auf ihre Pflichten für Bürger, gab ihnen
aber noch nicht die vollen Rechte. Insbesondere waren es die §§
12 und 13 des Edikts, die eine starke Benachteiligung der J. enthielten.
Nach ihnen durfte die Zahl der J.-familien "an den Orten, wo sie
dermalen bestehen, in der Regel nicht vermehrt werden, soll vielmehr
nach und nach vermindert werden, wenn sie zu groß ist."
Ferner wurde die Niederlassung von J. in einer Zahl, die über diejenige
der z. Zt. des Edikts an einzelnen Orten ansässigen J. hinausging,
oder die Neuansiedlung von J. dort, wo sie noch nicht wohnten, von der
besonderen königlichen Genehmigung abhängig gemacht, die nur
an Fabrikanten oder Handwerker oder Ackerbautreibende erteilt werden
sollte. Die Einrichtung des Schutzbriefs wurde durch die Matrikel ersetzt,
die für jede 1813 niedergelassene Familie bei der Kreisregierung
eingetragen wurde und auf den ältesten Sohn sich vererbte. Die
übrigen Söhne mußten, um eine Familie gründen zu
können, eine Matrikelvakanz, die nur durch einen Todesfall oder
die Auswanderung einer Familie eintreten konnte, abwarten und dann für
den Kauf noch große Geldopfer bringen.
Gegen diese Gesetzesbestimmungen kämpften die Gemeinden unter
Führung der Gemeinde Fürth ein halbes Jahrhundert. Die Verfassung
vom 26. Mai 1818 brachte den J. noch immer keine Gleichheit der Rechte,
obwohl die Gleichheit der Pflichten unverändert fortbestehen blieb.
Die J. waren von der ständischen Vertretung ausgeschlossen. Die
Fürther j. Gemeinde, die früher durch zwei Mitglieder im Magistrat
vertreten war, blieb bei den Wahlen im Jahre 1818 ohne jede Vertretung,
und erst auf ihre Vorstellungen erhielt sie durch königliche Verordnung
einen Vertreter. Eine im April 1819 in München abgehaltene j. Notablenversammlung
beschloß eine Petition an den Landtag um Gewährung der Vollberechtigung,
und in Ausführung dieses Beschlusses verfaßte der Rabbiner
S. W. Rosenfeld, nachmaliger Distriktsrabbiner in Bamberg, eine Denkschrift,
die dem Landtage eingereicht wurde. Während die Münchener
Kaufmannschaft die Bemühungen der J. um Gleichberechtigung zu durchkreuzen
suchte, trat der Erlanger Prof. Lips für sie ein. 1819 beschloß
der Landtag eine Revision des Edikts von 1813 bei der Regierung zu beantragen.
Aber schon zwei Wochen darauf kam es durch die Hep-hep-Hetze zu Überfällen
auf J. an verschiedenen Orten B.s, und unter dem Einfluß der Gasse
wurde die Revision hinausgeschoben. Umsonst bemühten sich die Vertreter
der J. auf Grund der Beschlüsse einer neuen Notablenversammlung
(Ende 1821), die Regierung erklärte die Revision für "noch
nicht zeitgemäß". 1831 petitionierten die Gemeinden
Ansbach, Fürth und Würzburg aufs neue, und nach der Landtagsdebatte
vom 5. November dieses Jahres wurde eine Entschließung im Sinne
einer umfassenden Revision angenommen, der auch die Regierung zustimmte.
Aber die Regierung wollte, nachdem sich drei Jahre hindurch die Vorarbeiten
hingezogen hatten, zunächst eine Vereinheitlichung der j. Gemeinden
und ihre Unterordnung unter eine Oberkirchenbehörde bewirken. Die
im Jahre 1836 auf Veranlassung der Regierung abgehaltenen Kreissynoden
zeigten, daß die Meinungsverschiedenheiten unter den J. unüberbrückbar
waren, und dies diente als Vorwand für eine weitere Zurückhaltung
der Revision. Das Ministerium Abel nahm überdies noch Anlaß,
den J. zu erklären, daß die alles verflachende "rationalistische
Kritik" und die zu der "so verderblichen Neologie und dem
religiösen Indifferentismus" ausartende Aufklärung von
der Regierung mißbilligt werden müßten (1838). Erst
1846 kam es zu einem neuen Landtagsbeschluß, der jedoch nur die
Beseitigung einiger Beschränkungen forderte und die Zustimmung
der Regierung erhielt. In der Debatte hatte sich bes. der katholische
Theologe und Historiker v. Döllinger hervorgetan. Die unbefriedigende
Lage der bayerischen J. in der ersten Hälfte des 19. Jhdts. hatte
bewirkt, daß viele von ihnen nach Amerika auswanderten und es
dort zum großen Teil zu Wohlstand und Ansehen brachten. Die Bestrebungen
der Regierung, die J. durch Gewährung der Gleichberechtigung nur
an j. Landwirte, Handwerker und Industrielle (s. oben) vom Handel abzuwenden,
hatten nur geringen Erfolg. 1822 zählte man unter 53 402 J. in
B. 252 Bauern- und 169 Handwerkerfamilien; 1844 waren es 1216 Bauern
und 4813 Handwerker.
Auch nach der Revolution von 1848 trat nur allmählich eine Besserung
der Rechtslage ein. Die Proklamation des Königs vom 6. März
1848, die eine "Verbesserung" der Lage der J. in Aussicht
gestellt hatte, blieb zunächst ohne praktische Folgen. Wohl sprach
sich im folgenden Jahre die Abgeordnetenkammer grundsätzlich für
die Gleichberechtigung aus, aber die zweite Kammer desavouierte sie.
Die Zeit der Reaktion war für eine befriedigende Lösung noch
nicht reif, und 1851 wurde die Aufrechterhaltung der drückenden
Bestimmungen des Edikts von 1813, gegen die die Gemeinden immer wieder
mit Petitionen ankämpften, ausdrücklich bestätigt. Abermals
wanderten in jener Zeit zahlreiche J. aus B. nach Amerika aus. 1861
fiel endlich das Gesetz über die Matrikeln. Doch erst das Jahr
1872 brachte die volle Gleichberechtigung, sodaß man von da ab
theoretisch in B. zwischen den J. und Nichtjuden keinen Unterschied
mehr kannte. Die antisemitische Bewegung der 80er Jahre wirkte sich
aber auch in B. aus. Abgesehen von vereinzelten Sozialdemokraten wurden
J., nachdem zuerst zwei j. Abgeordnete dem Landtag angehört hatten,
in diese Köperschaft nicht gewählt. Auch im Staatsdienst wurde
ihre Zulassung zeitweise beschränkt. Im Heeresdienst, wo urspr.
das Patent käuflich war, erreichten sie dagegen lange Zeit die
Beförderung zu aktiven, wenn auch untergeordneten Offiziersposten
und wurden auch vielfach zu Reserveoffizieren befördert. Zu Beginn
des 20. Jhdts. gab das wirtschaftliche Vordringen von J. besonders als
Warenhausbesitzer, die äußere Ursache für das Hervortreten
des latenten Antisemitismus. Der Zustrom von Emigranten im Jahre 1906
veranlaßte den ersten größeren Vorstoß gegen
die Ostjuden. Nach der Eisnerschen Ministerschaft (1918-19) und der
Räteregierung (April 1919) war der Antisemitismus in B. stärker,
roher und gefährlicher als im übr. Deutschland. Das Treiben
Hitlers und der nationalsozialistischen Bewegung unter Führung
Ludendorffs führte zu einer wüsten Agitation gegen die J.,
die 1923 in der Ausweisung zahlreicher Ostj. ihren Höhepunkt erreichte.
1921 bildete sich der "Verband Bayerischer Israelit. Gemeinden".
Von den (1925) 49 163 bayerischen J. wohnen 7813 in der Pfalz. Das ganze
Land ist in 21 Rabbinatsdistrikte, davon 4 pfälzische, aufgeteilt.
Die Zahl der J. betrug in:
München (Gesamtgebiet) |
10 687
|
Nürnberg |
8603
|
Fürth |
2504
|
Würzburg |
2261
|
Augsburg |
1208
|
Ludwigshafen |
1241
|
Bamberg |
972
|
Die j. Bevölkerung B.'s ist in den J. 1910 bis 1925 von über
55 000 um fast 6000 Personen = annähernd 11 % zurückgegangen,
während die Gesamtbevölkerung in Bayern sich um über
7 % vermehrt hat. 1925 betrug der Anteil der J. an der Gesamtbevölkerung
0,7 %.
(Jüdisches Lexikon, Berlin 1927)
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