Nein, liebe Leser, ich beabsichtige keineswegs Sie mit dieser, möglicherweise
als pietätlos empfundenen, Frage ‚auf den Arm nehmen' zu wollen, ich
stelle nur die simple Frage nach dem Gehalt eines Begriffs, den wir
alle kennen und den manche von uns häufig benutzen. Aber, was präzise
soll oder muss man sich in Deutschland unter "Nazi" vorstellen?
Von Robert Schlickewitz
Als ich Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in München Geschichte
studierte, wurden wir Studenten in Einführungsvorlesungen auf häufig
gebrauchte Begriffe sowie Schlagworte und deren Verwendung hingewiesen
und wurde uns eingeschärft Begriffsabgrenzungen gegen verwandte oder
vermeintlich ähnliche Worte zu betreiben. Lieber eine Definition zu
viel als eine zu wenig, war die Devise unseres nicht mehr ganz jungen,
aber wohlwollenden Profs gewesen.
Blättern wir also in diversen Nachschlagewerken nach, in der Hoffnung
beim Begriff "Nazi" zufriedenstellend fündig zu werden und mit dem Ziel,
am Ende eine allgemein gültige Definition von "Nazi" zur Verfügung zu
haben, mit der jedwede weitere Diskussion zu diesem Thema obsolet wäre.
Der Große Brockhaus, 15. Auflage,
1932:
"Nazi, südd. Kurzform zum Namen Ignaz." (südd. = süddeutsch, RS); somit
wäre also auch der Historiker J. J. Ignaz von Döllinger ein "Nazi".
Der grosse Brockhaus, 16. Aufl.,
1953:
Enthält das Stichwort "Nazi" nicht.
Der Grosse Herder, mehrbändig, 5.
Aufl. von 1955:
Kommt gleichfalls ohne dieses Stichwort aus.
Erich Bayers "Wörterbuch zur Geschichte"
erschienen im renommierten Stuttgarter Kröner Verlag, 4. Aufl., 1974/1980:
Verzichtet auf einen Eintrag zu "Nazi".
Meyers Enzyklopädisches Lexikon,
9. Aufl., 1976/78:
"Nazi, Kurzform von Nationalsozialist (abwertend)." - Glaubt der Lexikonredakteur
im Ernst man könne "Nationalsozialist" noch abwerten?
Die Enzyklopädie des Nationalsozialismus,
herausgegeben von den Spitzenleuten Wolfgang Benz, Hermann Graml und
Hermann Weiß, 3. Aufl., 1997/98:
Informiert generell recht gut, nur zu "Nazi" fiel der Redaktion nichts
ein.
Gerhard Taddeys "Lexikon der deutschen
Geschichte bis 1945", ebenfalls Kröner Verlag, 3. Aufl. 1998:
Ist der Überzeugung "Nazi" nicht näher erläutern zu müssen.
Das Goldmann Lexikon in 24 Bänden
aus dem Lexikographischen Institut von Bertelsmann von 1998:
Glaubt auf eine Definition von "Nazi" verzichten zu können.
Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden
von 2005:
Empfindet ebenfalls keinen Bedarf für eine Begriffsklärung von "Nazi".
Die Brockhaus Enzyklopädie in 30
Bänden, 21. Aufl., 2006:
Kennt das Stichwort "Nazi" nicht, hält jedoch unter "Nazigold" den Verweis
auf "Raubgold" bereit.
Fehlanzeige also bei den allgemeinen Nachschlagewerken und den Handbüchern
zur Geschichte. Wenden wir uns daher einem Wörterbuch der deutschen
Sprache zu, beispielsweise
dem Wahrig - Deutsches Wörterbuch,
Ausgabe 1986/88:
"Nazi (m. 6; abwertendes Kurzwort
für) Nationalsozialist"; schon wieder diese semantische Kuriosität wie
beim Meyer von 1976/78.
Und das Ausland, hat es mehr Mut einen Begriff zu erläutern, den genau
zu definieren, doch von großer Bedeutung wäre, angesichts der mit "den
Nazis" verbundenen Gräuel des 20. Jahrhunderts?
Gran Diccionario Enciclopedico Plaza &
Janes heißt eine 12bändige spanische Enzyklopädie aus dem Jahre
1976 (5. Aufl.):
"Nazi adj. com. Nacionalsocialista.
apl. a pers., u. t. c. s."; gewöhnlich ein Adjektiv also für "Nationalsozialist",
das auf Personen angewendet wird und auch als Substantiv gebraucht werden
kann.
Die Encyclopaedia Britannica von
1959 bietet geringfügig mehr an Informationen:
"Nazi, a popular abbreviation for
a member of Adolf Hitler's National Socialist German Workingmen's party
(Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, commonly designated
by its initials NSDAP). The nickname originated from the German pronunciation
of the first two syllables of ‚National'. (See National Socialism.)"
Summa summarum kommt man zum Schluss, dass es wohl jedem selbst überlassen
bleibt, was er unter "Nazi" versteht, oder damit bezeichnen will, solange
es noch keine endgültige Festlegung auf eine und eine einzige Bedeutung
dieses Terminus' gibt.
Zu meinen Zeiten als Student galt, so jedenfalls gemäß einem weiteren
meiner ehemaligen Professoren, das nur der Begriff als determiniert
anzusehen ist, der auch im Brockhaus (oder einem anderen anerkannten
Nachschlagewerk) steht. Da sich die Zeiten inzwischen geändert haben
und Brockhaus an Reputation und Bedeutung eingebüßt hat, könnte man
sich an Wikipaedia orientieren - oder nicht. Ein Blick wert ist deren
Eintrag zu "Nazi" allemal.
Spekulationen darüber, warum noch keine allgemeingültige Begriffsbestimmung
für "Nazi" vorliegt, führen früher oder später zum, von mir als verlogen
angesehenen, nicht tabufreien Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte
und deren Unfähigkeit diese offen und ehrlich zu ‚bewältigen'.